- humanitäre Intervention
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Völkerrecht: die Anwendung von Waffengewalt zum Schutz der Bevölkerung eines fremden Staates vor Menschenrechtsverletzungen. In dieser Form ist der Begriff der humanitären Intervention von der Völkerrechtslehre erst in jüngster Zeit definiert worden. Im 19. Jahrhundert war die humanitäre Intervention ein Instrument der europäischen Großmächtepolitik, das gegenüber nichteuropäischen Ländern eingesetzt wurde, jedoch beschränkte sich die Definition nicht auf den Einsatz militärischer Mittel. Als Musterbeispiele gelten die Einmischungen der Großmächte in die Angelegenheiten des Osmanischen Reiches (Türkei) zugunsten christlicher Minderheiten. Diese Maßnahmen waren jedoch häufig nur Vorwand, um andere Ziele durchzusetzen.Im 20. Jahrhundert wurde der Grundsatz der Staatengleichheit und das aus ihm abgeleitete Interventionsverbot stärker betont (Intervention), so auch in der UN-Charta. Unter dem Einfluss der Entwicklung der Menschenrechte bildete sich jedoch der völkerrechtliche Grundsatz heraus, dass Menschenrechte nicht mehr zu den Angelegenheiten zählen, die ihrem Wesen nach zur ausschließlich inneren Zuständigkeit eines Staates gehören. Für die Signatarstaaten globaler und regionaler Menschenrechtspakte (Menschenrechte) wurde daraus das Recht abgeleitet, sich mit Menschenrechtsverletzungen auf dem Gebiet eines anderen Signatarstaates auch dann zu beschäftigen, wenn diese Rechtsverletzungen ausschließlich Staatsangehörige des letztgenannten Staates betreffen. Daraus ergibt sich in der Praxis aber nur das Recht eines jeden Signatarstaates einer Menschenrechtskonvention, einen anderen Signatarstaat auf Menschenrechtsverletzungen aufmerksam zu machen und ihre künftige Unterlassung zu fordern. Welche Durchsetzungsmittel den einzelnen Staaten und der organisierten Völkerrechtsgemeinschaft (auf globaler Ebene der UNO) für einen effektiven Menschenrechtsschutz zur Verfügung stehen, richtet sich jedoch nach dem Völkerrecht, das seit In-Kraft-Treten der UN-Charta (1945) vom Gewaltverzicht beherrscht wird. Vom Gewaltverbot nicht betroffen sind der Verteidigungskrieg und militärische Sanktionen, die vom UN-Sicherheitsrat beschlossen werden.Die Anwendung von Waffengewalt zum Schutz der Bevölkerung eines fremden Staates vor Menschenrechtsverletzungen ist daher nur zulässig, wenn dies entweder als zur Selbstverteidigung berechtigender Angriff gegen die territoriale Unversehrtheit oder die politische Unabhängigkeit eines Staates oder als sonst mit den Zielen der UN unvereinbare Gewaltanwendung oder Gewaltandrohung betrachtet wird (Art. 51 in Verbindung mit Art. 2 Ziffer 4 der UN-Charta) oder wenn der Sicherheitsrat die betreffenden Menschenrechtsverletzungen als Bedrohung oder Bruch des Friedens oder Angriffshandlung im Sinne von Art. 39 der UN-Charta erklärt hat.Auf die erste Alternative ist bei der gewaltsamen Geiselbefreiung auf fremdem Staatsgebiet (z. B. 1976 auf dem Flughafen von Entebbe durch israelische Streitkräfte; 1980 versuchte Geiselbefreiung durch US-Streitkräfte in Iran) hingewiesen worden. Diese Rechtfertigung ist in der Völkerrechtsliteratur umstritten, da die betreffenden Aktionen stets auf die Befreiung von eigenen Staatsangehörigen abzielten, während die humanitäre Intervention definitionsgemäß den menschenrechtlichen Schutz fremder Staatsangehöriger bezweckt.Die zweite Alternative der Rechtfertigung ist bisher noch nicht in der Praxis eingesetzt worden. Selbst in der Resolution 688 vom 5. 4. 1991, durch die der Sicherheitsrat die Errichtung einer Schutzzone für die bedrohte kurdische Bevölkerung im Norden Iraks unter Einsatz militärischer Gewalt der USA und ihrer Verbündeten billigte, wurden als Rechtfertigung nicht unmittelbar die Menschenrechtsverletzungen in Irak, sondern nur die dadurch ausgelösten Flüchtlingsströme über internationale Grenzen hinweg als Bedrohung des Weltfriedens bezeichnet. Auch bei der Billigung des Einsatzes militärischer Gewalt in Somalia durch die Resolution 794 vom 3. 12. 1992 hat der Sicherheitsrat die Feststellung einer Bedrohung des Weltfriedens durch Menschenrechtsverletzungen vermieden und nur von einer »durch den Konflikt in Somalia verursachten menschlichen Tragödie« gesprochen, die »eine Bedrohung des Weltfriedens und der internationalen Sicherheit darstellt«. In ähnlicher Weise ermächtigte der Sicherheitsrat in der Resolution 929 vom 22. 6. 1994 alle Mitgliedstaaten der UN, einen humanitären Einsatz zum Schutz von Vertriebenen, Flüchtlingen und gefährdeten Zivilisten in Ruanda »unter Heranziehung aller Mittel durchzuführen, die notwendig sind, um die humanitären Ziele zu erreichen«.Nach geltendem Völkerrecht ist die humanitäre Intervention als Kollektivmaßnahme der Vereinten Nationen zwar zulässig, jedoch können sich einzelne Staaten oder Staatenbündnisse nicht auf die Rechtsinstitution der humanitäre Intervention stützen, um den Einsatz militärischer Mittel gegen einen souveränen Staat zu rechtfertigen.A. Randelzhofer: Neue Weltordnung durch Intervention?, in: Wege u. Verfahren des Verfassungslebens, hg. v. P. Badura u. R. Scholz (1993);A. Roberts: Humanitarian war. Military intervention and human rights, in: International Affairs, Jg. 69 (London 1993); D. Blumenwitz: Die h. I., in: Vom mittelalterl. Recht zur neuzeitl. Rechtswiss., hg. v. N. Brieskorn u. a. (1994);L. Minear u. T. G. Weiss: Mercy under fire. War and the global humanitarian community (Boulder, Col., 1995);M. Pape: H. I. (1997);F. R. Tesón: Humanitarian intervention (Irrington-on-Hudson, N. Y., 1997).
Universal-Lexikon. 2012.